Highlights
13. April 2020
Hinrich von Haaren, London
Meine Wohnung und der Staub
Meine Wohnung ist mein Reich. Hier lebe und schreibe ich. My home is my castle. Jetzt aber hat mein Reich seine Grenzen geschlossen, die Schlüssel zum Castle sind nicht mehr zu finden, und auf einmal kommt mir meine Wohnung gar nicht mehr so einladend vor. Sie grinst mich von morgens bis abends an und sagt: „sieh mal, was du hier alles zu machen ist“.
Meine Wohnung führt mir nun meine häuslichen Unzulänglichkeiten vor: Ich wische nicht genug Staub (eigentlich gar nicht), ich putze die Fenster zu selten, ich sauge nicht gründlich, die Armaturen im Bad sehen stumpf aus vor Wasserflecken, gestrichen werden könnte auch mal wieder, die Bücherregale befinden sich in einem armseligen Zustand, aus den Schränken fallen beim Öffnen seit langem nicht mehr getragene Kleidungsstücke, die schon vor Jahren hätten entsorgt werden müssen, ganz zu schweigen von den Papierstapeln im Arbeitszimmer.
Was bist du eigentlich für ein Faultier, sagt meine Wohnung, Zeit, nichts als Zeit, und du gibst vor, dich ginge das hier alles gar nichts an. Ich versuche meine nun sehr rechthaberische und aufdringliche Wohnung zu ignorieren, doch sofort landet mein Blick auf einem Häufchen Frühstückskrümel unter dem Esstisch.
Einmal am Tag entkomme ich und gehe auf den von den Behörden zugelassenen Spaziergang. Entgegen kommen mir Passanten, die, ihrem selbstzufriedenen Ausdruck nach zu urteilen, alle in sehr ordentlichen Häusern wohnen, Leute, die mit ihrem Domizil auf bestem Fuße stehen. Solche Menschen sind mir zuwider. Wenn ich nach Hause komme, grinst meine Wohnung selbstzufrieden. Siehst du, es geht auch anders, sagt sie. Ich schalte den Fernseher an und gucke einen Krimi, starre aber die ganze Zeit nur einen Fleck auf der Mattscheibe an. Meine Wohnung hockt hinter dem Sofa und lacht schadenfroh.
27. März 2020
Hinrich von Haaren, London
Ich lebe im Stadtteil Hackney, im Osten von London. Am 1. April werden es 25 Jahre. Diese Gegend ist eine der lebhaftesten und kosmopolitischsten dieser Stadt, die mit solchen Adjektiven nur so um sich werfen kann. Nun ist die Metropole zum Stillstand gekommen.
Aber das Drama spielt sich nicht auf den Straßen um meine Wohnung ab, sondern im Fernsehen und im Internet. Täglich werden in den Nachrichten neue Schreckenszahlen gesendet, die sozialen Medien sind voller Angstgeschrei und Galgenhumor.
Die Nachrichten stiften Verwirrung und machen Angst. Täglich gibt es neue Regeln, die niemand durchschaut. Der reiche Westen sieht sich konfrontiert mit Krankheit und Tod. Das sind wir nicht gewohnt. Solche Geschichten spielten sich bisher in fernen Ländern ab. Und es scheint mir, als wüssten wir nicht, wie wir unsere neuen Geschichten deuten sollen.
Was mir hilft, ist die Literatur. Hier gelten – im positiven Sinne – noch Regeln. Wenn ich morgens Ovid in den Metamorphosen besuche, weiß ich, was die Regeln sind – du verärgerst die Götter und wirst in einen Vogel, Hirsch, in eine Schlange verwandelt. Wenn ich nachmittags mit Donna Leon durchs verbrecherische Venedig ziehe, weiß ich, dass am Ende der Mörder gefangen wird. Und wenn ich abends durchs zeitgenössische London der wunderbaren Ali Smith wandere, dann scheint sie mir ein erklärendes Licht auf die letzten Jahre hier zu werfen. In der Literatur wird das Leben gedeutet, im Rahmen einer Seite und eines Romans. Das ist ihre Menschlichkeit, und so ist sie mir, wie immer, ein Trost.