Highlights
20. März 2020
Konrad Kramar, derz. Bad Hall
Ich habe den Ausbruch der Corona-Krise in einer Reha-Klinik im oberösterreichischen Bad Hall erlebt, wo man mich wegen eines drohenden Burn out hingeschickt hatte. Ich war also umgeben von psychisch kranken Menschen aller Art, als Tag für Tag neue Maßnahmen der Regierung und neue Fallzahlen verkündet wurden. Diese Maßnahmen versuchte dann eine merklich überforderte medizinische Leitung möglichst lückenlos in der Anstaltsrealität umzusetzen. Allein die tägliche Verkündigung der neuen Regeln für den Reha-Betrieb durch die Leiterin im großen Speisesaal sorgte jedes Mal für gespenstische Stimmung. Egal, ob es sich nun um die Sperre von Räumen handelte, die Absage von Therapien in der Gruppe, oder schlicht das Ende der gemeinsamen Spaziergänge im Freien: Für Menschen, die in vielen Fällen ohnehin darunter leiden, dass sie ihr Leben nicht selbst in der Hand haben und ständig von anderen und deren Entscheidungen abhängig sind, trifft das genau ihre Ängste.
Entsprechend waren die Reaktionen. Manche Patienten wurden sofort von der fixen Idee überfallen, dass man sie ohnehin bald gänzlich einsperren werde, und sie daher einfach so rasch wie möglich rausmüssten. Viele reisten tatsächlich Hals über Kopf und während der Abendstunden ab. Depressive vertauschten ihre Antriebslosigkeit mit einer plötzlichen panischen Betriebsamkeit. Andere wiederum wurden aus der Routine herausgerissen, in die sie sich gerade eingelebt hatten und sich einigermaßen sicher fühlten. Eine Reha-Anstalt dieser Art bietet ja ganz bewusst eine strikte tägliche Routine, von den Essenszeiten bis hin zu den Dienstplänen für alle Therapien, die jeder Patient mit sich herumschleppt, um sich wie in der Schule seine Anwesenheit bei jeder dieser Therapien per Unterschrift bestätigen zu lassen. Wer sich an diese Routine anpasst und sie brav einhält, kann sich sicher und gut aufgehoben fühlen – umso schlimmer, wenn sie auf einmal auseinanderbricht.
Während die einen also mit Flucht reagierten, gerieten die anderen in einen aufgeregten Herdentrieb. Ständig versammelten sich Gruppen auf dem Gang, um die letzten Entwicklungen und natürlich die passenden Katastrophenszenarien zu diskutieren. Viele, die zuvor abseits der Therapien kaum in Erscheinung getreten waren und zurückgezogen in ihren Zimmern gelebt hatten, waren auf einmal in ihrem Sozialverhalten kaum noch zu bremsen. Es gab jene, die alles fast krampfhaft verwitzeln mussten, und jene, die aus allem eine Tragödie inszenierten, jene, die sich vor allem um sich selbst und jene, die sich ständig um andere Sorgen machten – ohne zu fragen, ob diese Sorgen überhaupt begründet waren. Alle Verhaltensweisen, wie sie auch draußen in der realen Welt anzutreffen sind, waren vergrößert und verzerrt, manchmal ins Groteske: Ganz so, wie sich im „Zauberberg“ von Thomas Mann Orientierungslosigkeit und Niedergang der Bourgeoisie in einer Lungenheilanstalt spiegeln. Die Reha-Anstalt inmitten der Corona-Krise als die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält. Gelungen aber ist diese Probe beileibe nicht.