Highlights
31. März 2020
Katharina Pressl, Wien
Dinge, die in minimalem Radius noch immer aufregend sind: Als ich um 18:00 vom Einkaufen heimkehre („in das Heimathaus“ würde die Regierung sagen, wenn man die Rhetorik der „Heimholung“ von österreichischen Touristen „ins Heimatland“ auf meine Routen umlegt), fährt das erste Mal auf der Straße ganz nah ein Polizeiauto vorbei, so nah, man kann fast die kaum existenten Schallwellen spüren, die sich aus den Lautsprechern vom Polizeiauto beinahe nicht verbreiten, beinahe eh nicht zu hören sind, und trotzdem versetzt mich das direkte Aufeinandertreffen mit „I am from Austria“ in helle Aufregung. Außer Ideen, welches Lied man zu dieser Zeit über offene Fenster entgegen beschallen könnte, oder Umdichtungsvorschläge fällt mir nichts ein, keine Handlungsstrategie für einen Auf-der-Straße-Encounter mit dieser Zeile, die man zurzeit einfach als exekutive Staatsgewalt nicht bringen kann. Vielleicht kann man sie bringen, aber akzeptieren kann ich es, wie auch immer das Nicht-akzeptieren geartet sein mag, nicht. Deshalb hebe ich die Hände wie ein Shrug-Emoji und schüttle den Kopf mit extrem entrüstetem Blick, so wie ich es von Fußgängern mit Hut, die am Gehsteig (österr. für wo die Fußgänger gehen) auf Radfahrerinnen treffen, gelernt habe. Pures Entsetzen über solch frevelhafte Taten ist bis auf die Fahrerseite hinüber zu sehen, so hoffe ich zumindest.
Dinge, die mir gefallen: Wie Nähe und Zeit ineinander fallen und sich in verschiedenen Ausformungen über einen legen. Das leicht Irre, das sich daraus ergibt. Ruhe und Unruhe, die sich ausgewogen nacheinander äußern können, ohne dass ich mit Tränen in den Augen das Haus verlassen muss, um ja einen Termin einzuhalten. Dass die Zeit, in der man sich gut verstehen kann, nicht mehr kurz ist, wie die Zeit manchmal war, in der man sich gesehen hat, ohne etwas aufräumen zu müssen oder schon genug Gespräche geführt zu haben, ohne noch müde oder schon wieder müde oder am Beginn, im, oder kurz nach dem Menstruationszirkel zu sein. Und: Das Gefühl, dass wir alle gemeinsam ausgeliefert sind, ein Gefühl, das wir möglicherweise öfters haben müssten, um es weniger oft zu sein.
Dinge außerhalb politischer und gesundheitlicher Implikationen und unter der Annahme von Privileg: Sich nicht Türschnallen in die Hände geben müssen, nicht, weil sich dort Zellen befänden, die potenziell töten, sondern, weil die Hände und Klinken glatt waren, niemand hielt sich fest, alle gingen. Es wirkte nicht, wie man geht, wenn man ein Ziel hat. Mit einem Ziel muss man nicht ständig los. Wenn man weiß, was man will, bricht man einmal auf. Es war mehr ein Auf-dem-Sprung-Sein als Prinzip. Ein erzwungenes Überspielen durch Hin- und Herrennen. Als hätte man niemals über Nacht bleiben können, nie über den Durst trinken sollen, nie schon zum Frühstücken auftauchen können, nie auf viele unbeantwortete Nachrichten hunderte Witze nachschicken dürfen, nie den Mut haben sollen, sich nach der Mittagspause aus Grippe- oder Schwermutsverdacht krankzumelden und die ganze Woche bei einer Freundin leben, der es zufällig genauso erging. Auf die glatten Türklinken trafen keine rauen Handinnenflächen, die das Abrutschen, das ständige Loslassen verhindert hätten, kein ungepflegter Finger, der eine Angel, und kein eingerissener Nagel, der ein Widerhaken hätte sein können. Und ich kein anderes Ich, das irgendwie dafür bereit gewesen wäre. Kaum ein Naher ist nun räumlich nah, doch ist der auf null gesetzte Schrittmacher irgendwie auch mein gleichmäßiger Herzschrittmacher, eine unerhoffte Beruhigung, ein überraschendes, wenn auch problembehaftetes Glück, dass sie bleiben, dass sie mir nicht fortgehen können, nicht auf die Weise, wie wir ständig mussten (und bald wieder müssen werden oder hoffentlich bald einmal wieder nicht mehr müssen unter anderen Vorzeichen).
24. März 2020
Katharina Pressl, Wien
Gefährlich oder schön, je nachdem, wen man fragt
Der beste Boyfriend von allen - hier stand früher Mitbewohner, dann hat er sich beschwert -, greift sich gedankenverloren unter den Pullover und sammelt mit der Fingerspitze die Fussel im Bauchnabel ein. Er begutachtet die Beute, zwirbelt sie zu einem kleinen Bällchen und wirft ihn aus dem Fenster.
Meine Schwester kommt aus Deutschland zu uns zum Quarantänieren. Als ich sie der Nachbarin am angrenzenden Balkon vorstelle, duckt die Nachbarin sich und weicht etwas zurück. Als Entschädigung verrate ich ihr, in welchem Geschäft es sehr wohl Klopapier gebe. Später werde ich ihr eine Packung mitbringen. Sie wird es sich nicht nehmen lassen, mir dafür das Geld zurück zu geben, auch auf einen Tauschhandel mit nachbarschaftlichen Tätigkeiten wird sie sich nicht einlassen; sowieso würde sie im Sommer meine Pflanzen gießen. Sie wird schwören, sie habe nur mehr zwei Rollen gehabt. Ich werde erkennen, dass es für unsere Beziehung besser wäre, das Geld anzunehmen, als es abzulehnen. Wenn die Teenagertöchter nebenan überdurchschnittlich aufgebracht mit dem Vater streiten, spreche ich möglichst nah an der Wand laut mit mir selbst, wie spät es sei, ob wir noch Waschmittel hätten, oder mache eine Türe geräuschvoll zu. Dann wird es leise und meine ausufernden Sorgen werden zu einem vernünftigen Binnenland. Das müssen sie auch, da die Realität der Häuslichkeit ein rauer Ozean ist. Der Rückzug ins Private ist sehr gefährlich. Während meine schöne kleine Isolation im Grunde eine gute Zeit ist. Deshalb nicht zuletzt Shout Out an alle Familien und Einzelpersonen, die trotz Ansteckungs- und Verbreitungsgefahr vernünftig genug sind, hinauszugehen, bevor sie sich die Köpfe einschlagen.
Meine Schwester hat irgendwo gelesen, dass anfänglich gar nicht so viel mehr Klopapier als Mehl oder Nudel gekauft wurden, es eignete sich jedoch besonders als Mangel-Bild, weil die Regale so schnell leer sind, denn Klopapierpackungen sind größer und nehmen mehr Platz ein als kleiner verpackte Lebensmittel. Ich finde alle Klopapierwitze und -referenzen nicht lustig, ich weiß auch nicht warum, und warum sie trotzdem in diesem Text trotzdem so viel Platz einnehmen. Vielleicht, weil ich an einem der vergangenen Abende erzählt habe, ich verspürte im alten Leben, vor Covid-19-Zeiten, bereits leichte Scham, wenn ich mit einer Doppel-Packung Klopapier vom Supermarkt nach Hause ging und dass es mir immer lieber sei, dabei niemanden zu treffen. Die anderen haben sehr gelacht.
Ich schaue Videos, in denen ein Wellensittich (?) in einem Wellensittich-Bademantel (?) mit Kapuze (!) herumhüpft, zum Beispiel über einen sogenannten Lang- oder Hochflor-Teppich. Manchmal kippt er vorne über, hihi, tollpatschiges Vögelein. Der Mediencontent, den der beste Boyfriend von allen ab und zu mit mir teilt, indem er mir seinen Bildschirm unter die Nase hält, ist ein Wechselbad der Gefühle: einmal Videos von Arnold Schwarzenegger, der gemeinsam mit seinem Pony namens Whiskey und dem Esel namens Lulu für Social Distancing wirbt, ein andermal die Todeszahl aus Italien (mehr als 600 an einem Tag). Ich schnaufe. Jemand postet, dass ja nun endlich alle FPÖ-Wähler Erntehelfer werden könnten, nachdem einem „die Ausländer“ nicht mehr die Jobs wegnehmen. Am Vorabend des internationalen Tags gegen Rassismus (der Welttag der Poesie fällt auf dasselbe Datum: 21. März) erlauben wir uns, nachts hinauszugehen und Plakate aufzuhängen. Grenzen töten. Rassismus tötet. Gesundheitsversorgung für A L L E. (Poesie.)
Kein Mensch wird’s sehen, wir werden uns ein bisschen besser, ein bisschen aktiver fühlen. Einige andere werden Leintücher aus ihren Fenstern hängen: Lager auf Lesbos evakuieren #WirHabenPlatz. Egal, wie sehr es wahrgenommen wird, es wird zu wenig sein. Es werden viele Leute wütend sein. Es wird berechtigt sein. Es wird so weiter gehen, nicht? Beweisen wir uns das Gegenteil.
Daweil mache ich, was viele von uns gerade zu machen scheinen: Stundenlang im Internet sein, Serien schauen (diese neue Freud-Serie vom ORF ist sehr creepy und sehr weird und sollte nicht Freud heißen, Staffel 3 von Elite ist zumindest besser als die zweite), Work Out vor Youtube-Videos, nach Jahrzehnten der Abneigung plötzlich joggen als wäre ich Kurz-Wähler, Erlässe für die Isolations-Wohngemeinschaft erteilen und nicht durchführen (Yoga, mehr lesen, mehr schreiben), versuchen, zu anderen Themen durchzudringen, vernünftige Äußerungen aufzutreiben (Mieterlass und alles, das beispielsweise coview.info fordert), täglich kochen, was ohne Lohnarbeit plötzlich Spaß macht, fürs Einkaufen gehen die Zähne putzen, anziehen für Zoom, die Polizei anrufen wegen Lärmbelästigung, wenn sie I am from Austria aus ihren Auto-Lautsprechern spielt und es als ungenutztes Potential empfinden, dass gerade jetzt die Haare eine perfekte Länge aufweisen.
Das zweite Mal in 27 Jahren speichere ich ein Dokument nicht ordentlich und meine Arbeit scheint verloren. Als hätte ich in diesen Zeiten keine Zeit oder wäre zu abgelenkt, um Dialogfelder nicht durchzulesen. Der beste Boyfriend von allen, normalerweise nicht technisch versierter als ich, findet nach langem wahnhaftem Herumsuchen die Datei in einem failed Uploads Limbo wieder. Die Lasagne wird kalt. Dieser Text ist hier.