Highlights
2. Mai 2020
Thomas Weber, Strasshof
Xaver, Achmed, Tränenmagd
Sternschnuppe war es keine, aber irgendetwas am Himmel hat sich bewegt. Wir waren draußen, am Sportplatz, wo keine Lampen stören, und wollten den Satellitenkonvoi sehen. 60 neue Satelliten hat SpaceX vor ein paar Tagen in die Erdumlaufbahn schießen lassen. 44 hätten noch als leuchtender Rattenschwanz zu sehen sein sollen. Jeden Tag werden es ein paar weniger sein, die gemeinsam ziehen, weil sie sich umfassend verteilen. Wirklich schön zu sehen waren nur die Korona des zunehmenden Monds und die unermüdlichen Maikäfer, die dumpf gegen die Straßenlaternen anfliegen, immer und immer wieder. Hätte ich das Fenster gekippt, könnte ich sie immer noch hören. Bald werden sie kraftlos am Asphalt unter der Lampe liegen; ein gefundenes Fressen für die Igel. Es ist ein Maikäferjahr. Das war schon vergangene Woche klar, als noch die Weichseln blühten und sich, kaum, dass abends die Bienen ausgeblieben waren, die dicken Brummer am Nachthimmel abzeichneten. Ein paar Mal schon habe ich tagsüber eine Hand voll von ihnen zu den Hühnern in der Nachbarschaft gebracht. Wie Bestien stürzen die sich auf die Opfergabe, mit der ich das Gemüse vor den gefräßigen Engerling-Larven schütze. Hendl sind domestizierte Saurier, das ist offensichtlich. Mich reizen die Käfer aber auch. Zumindest, seit ich gelesen habe, dass sie früher von Konditoreien verzuckert und kandiert als Nachtisch verkauft wurden. Vielleicht wage ich mich ans Experimentieren.
Das mit den Satelliten verdränge ich im Alltag. Das Verglühen eines Sterns empfinde ich als beruhigend, während das Wissen um tausende IT-Flugkörper da oben eher Unbehagen auslöst. Vermutlich sollte ich das ergründen.
Genauer hin- und hinaufzuschauen vorgenommen habe ich mir, wenn ich – bald hoffentlich – wieder in der Stadt bin. Auf Instagram haben die beiden Stadtflaneure Gabriel Roland und Magda Hiller die vergangenen Wochen genutzt, um im „Museum des Hinaufschauens“ unter dem Hashtag #raufschauen Aufnahmen von künstlerischen Fassadengestaltungen von 1919 bis 1989 zu sammeln, vor allem, aber nicht nur, aus Wien. Viele der Mosaike oder Fliesenkunstwerke, stelle ich mir vor, müssen bunte Tupfer in der ehemals grauen Stadt gewesen sein. Ich hoffe, dass die beiden auch dann noch weitersammeln, wenn die wiedereröffneten Geschäftslokale den Blick zurück zur ebenen Erde lenken. Wien wäre in den vergangenen Wochen des Ausnahmezustands wie in den 80er-Jahren gewesen, habe ich irgendwo aufgeschnappt. Tot, ausgestorben, weder Lokale noch Nachtleben. Daran habe ich zuletzt gedacht als ich das neueste „The Gap“ in der Hand hatte. Mit einigem Aufwand hat die Zeitschrift eine kommentierte Liste der 100 wichtigsten österreichischen Popsongs erstellt. Solch eine Liste lädt nicht nur zum Wiederhören und Videosuchen ein, sondern auch zum Widerspruch. Auch abseits von persönlicher Befindlichkeit, Prägung und Betroffenheit: Irgendwas fehlt immer. Mir beispielsweise „Großvater“ von S.T.S.. Als ich die posthume Hymne an den Großvater, erschienen 1985, am Klo auf YouTube hörte, bewegte sie mich aufs Neue. Eine sentimentale Mischung aus Weisheit, Alltags- und Weltkriegsbewältigung. Wer Thomas Bernhard gelesen hat, wird bei einer Anrufung, einem ausformulierten Stoßseufzer wie „Kaunnst du ned owa kumman auf an schnölln Kaffee“ und „I möcht da sovü sogn, was i erst jetzt versteh“ auch an dessen Sentenz „Die Großväter sind die Lehrmeister“ denken. Und bei mir – Pop eben – wiederaufersteht dabei mein eigener Großvater. Der Song rührte mich auch deshalb immer schon zu Tränen, weil ich genau eine einzige Erinnerung an ihn habe. Frühkindlich verklärt wohl, aber er leuchtet wie eine Sonne. Ich bin drei, dreieinhalb vielleicht, suche im Heu nach gefärbten Eiern und Schokoosterhasen, darf auf dem losen Heu hinunterrutschen, er fängt mich lachend, mit offenen Armen auf. Immer schon habe ich diesen Song auf ihn projiziert. Er hat geraucht und war lange in russischer Kriegsgefangenschaft. „Wann du vom Kriag erzählt host / wie du am Russn / Aug in Aug / gegenüba gstanden bist. / Ihr hobt’s eich gegenseitig / an Tschik anboten / die Hand am Abzug / hat zittert / vor lauter Schiss“, singen S.T.S.. Wer wünscht sich nicht so einen Opa? Und das Gedankenexperiment, ein Gespräch mit einem lange schon Verstorbenen, bleibt faszinierend. Immer und immer wieder. Was man erzählen oder fragen würde, verändert sich schließlich über die eigenen Lebensphasen hinweg. Ich würde meinen fragen, was er als Kind oder Jugendlicher von der Spanischen Grippe gehört hat; weil mich wundert, dass diese weltumspannende Katastrophe gar nichts im kollektiven Gedächtnis hinterlassen hat. Wie unbegreiflich das ist, wurde mir erst dieser Tage bewusst, an denen man sieht, wie sehr die gemeinsame Ungewissheit, die vielen offenen Fragen, das Ringen um Antworten auch Gemeinsamkeit schafft. Womöglich würde es dafür mehr als einen schnellen Kaffee brauchen. Aber ich könnte mich nicht erinnern, im Geschichtsunterricht oder von meinen Großmüttern jemals etwas von einer Spanischen Grippe gehört zu haben. Auch an Romane oder fiktional Verfremdetes erinnere ich mich nicht. Ob das daran liegt, dass der Schrecken dieser Pandemie damals kein Gesicht hatte? Dass dafür keine Kaiserstatuen für Kriegsanleihen verscherbelt wurden? Dass dafür nicht über den Volksempfänger getrommelt wurde? Laura Spinneys Buch über „1918 – Die Welt im Fieber“ werde ich jedenfalls lesen. Ich habe es meinen Eltern bei seinem Erscheinen geschenkt und das Nachwirken der Lektüre veranlasste die beiden bereits im Februar, eine für dieses Frühjahr geplante Reise abzusagen; als ich sie noch für etwas gar vorsichtig hielt, für voreilig. Mir scheint es momentan schwer denkbar, dass zwei, drei Generationen ihre individuelle Zeitrechnung nicht an einem Vor und an einem Nach Corona ausrichten.
Ein Glück jedenfalls für Verschonte, dass das Virus nicht als „Chinesische Lungenfäule“ in den Volksmund eingegangen ist oder als „Ischgl-Fieber“. Auch wenn ich mir unter solch einem Titel gut eine ORF-Fernsehproduktion vorstellen kann. Freitag, 23. Dezember 2022, 20.15 Uhr, ORF 1: „Die Seuche von Ischgl“, Drehbuch: Reinhold Bilgeri, Regie: David Schalko. Würde ich mir anschauen.
Corona ist da ein vergleichsweise harm- und jedenfalls einfallsloser Name. Warum bekommen Sturmtiefs von Meteorologen auch heute noch Namen wie Xaver, Sabine oder Bonifaz – wo sich doch kaum mehr jemand an den Heiligen gewidmeten Kalendertagen orientiert; aus den digitalisierten Kalendern sind sie bereits ganz verschwunden –, während so ein Virus läppisch und unpoetisch nach einer Virusfamilie benannt wird?
Bis wann wird es dauern, fragte ich mich vor ein paar Tagen, als ich im Wald eine morsche, vom Wind der vergangenen Nacht geknickte Eiche übersprang, bis wann wird es dauern, bis ein Wirbelsturm Achmed heißen darf, ohne dass das als ablehnend und abendländisch-identitär aufgefasst würde? Ein paar federnde Schritte weiter war ich gedanklich bei der kroatischen Bora und bei der „Tränenmagd“, jenem eisigen galizischen Westwind, der mir aus Karl Emil Franzos’ „Der Pojaz“ in Erinnerung geblieben ist.
Bei jedem Waldlauf mache ich zwischendurch Halt und mache mir, im Stand weitertrippelnd, meine Notizen. Xaver, Achmed, Tränenmagd, lese ich dann zuhause. Manchmal jubeln mir der Schweiß, das Trippeln und die Autokorrektur Tippfehler unter. Aber so bekomme ich den Kopf frei. So arbeite ich auch an längeren Artikeln, notiere Fragen, interessante Interviewpartner. So entwickle ich Zugänge, ohne zu vergessen, so schreibe ich an Büchern. So schaffe ich es, zwischendurch die ökonomische Ungewissheit, die mich, wie so viele meiner Mitmenschen auch, besonders beschäftigt, hintanzustellen. Und so schaffe ich es, nicht nur über gefallene Bäume, sondern auch von Gedanken zu Gedanken zu springen, ohne en passant Aufgeschnapptes zu vergessen. Etwa den Geschmack von Käfern im Mund.
Seit ein paar Tagen wimmelt es im Wald nur so vor fliegendem Getier. Vögel wüsste ich beim Namen zu nennen. Ich meine Insekten. Und weil meine Lippen offenbar nicht ganz schließen, wenn ich über Stock und Stein trample, wären die in meinen Mund verirrten Viecher auch nicht mehr identifizierbar, selbst wenn ich es schaffen sollte, sie noch als Ganze und unzergatscht mit dem Finger herauszuholen. Ich habe deshalb begonnen, zu differenzieren und nach Worten für die unterschiedlichen Nuancen der Bitterkeit zu suchen. Käferartig ist mir als Attribut zu allgemein, wenn ich merkbar verschieden Schmeckendes zu erkennen meine.
Wirklich überzeugen konnte ich mich allerdings von keiner der Zuschreibungen. Kribbelig im Abgang wären die Tiere wohl alle. Auch kaum eines der Worte, mit dem man beim Wein- oder Biertrinken um sich wirft, hilft, wenn wir von Käfern sprechen wollen. Wobei das größte Problem natürlich das Wir bleibt. Selbst wenn ich mir ein Vokabular erarbeite: Mit wem könnte man solcherlei Wortschatz schon teilen? Wer, mit dem man sich darüber austauschen könnte, unterscheidet schon Käfer nach ihrem Geschmack? Andererseits geht all den zoologischen Bestimmungsbüchern und anwendungsfreundlichen Apps wahrscheinlich Wesentliches ab, wenn darin der Geschmack des Beschriebenen fehlt. Immerhin sind, wenn wir von Käfern sprechen, die meisten Insekten ja nicht nur schön, schillernd oder segmentiert, sondern vor allem auch Nahrung für Vögel und Igel, für Hasel- und Fledermäuse.
Mir ist klar: Wer solche Gedanken nicht nur hegt, sondern auch ausspricht, wird seiner Umwelt schnell eigentümlich und skurril erscheinen. Soll so sein, denke ich mir. Besser schrullig und eigen als irgendwann zynisch und verbittert. Und vielleicht versuch’ ich es zum Nachtisch wirklich einfach mal mit kandierten Maikäfern. Ich tippe auf erdig und süß.
17. April 2020
Thomas Weber, Strasshof
An die Nachgeborenen
Wir essen Zwiebelsalat, weil wir uns nicht um den schlechten Atem anderen gegenüber scheren müssen, wenn wir zu Hause bleiben. Knoblauch, Zwiebel, Linsengerichte. Erste Freunde haben sich Glatzen rasiert. Im Schutz der eigenen vier Wände wird – ja, den Gedanken hatte ich auch – mit dem schütter gewordenen Haupthaar experimentiert. Langeweile ist aufgekommen, weil fast alle das Gleiche von sich gaben. Weil man sich in engen Wohnungen gegenseitig auf die Zehen steigt. Nie zuvor habe ich mich privilegierter gefühlt: ein kleines Häuschen, ein paar Quadratmeter Gemüse und Wiese, der Wald in Reichweite, eine Bibliothek und zahlreiche Bücherstapel. Manchmal vergesse ich, welchen Wochentag wir haben. Mittlerweile steht das Fernglas in Reichweite, gleich neben Leander Khils Bestimmungsbuch über die „Vögel Österreichs“. Bin ich schon einer dieser schrulligen Birdwatcher, wenn ich jetzt endlich den Unterschied zwischen einem gemeinen Haussperling und einem Feldsperling erkenne? Im nächsten Level ginge es dann darum, den Gesang der beiden erkennen und unterscheiden zu können. Mal sehen, wie lange wir zu Hause bleiben müssen.
Was mich beim Unkrautzupfen und Gießen beschäftigt hat, ist auch diese neue seltsame Zwischenkategorie. Plötzlich wird die Welt nicht mehr ausschließlich in Gesunde und Kranke unterteilt. Es gibt auch die Vorerkrankten. Bislang Gesundgeglaubte sind plötzlich Risikokandidaten. Und natürlich die Dunkelziffer. Diejenigen, die das Virus bereits bewirtet und womöglich unerkannt weitergereicht haben. Darüber hinaus habe ich die Lust daran verloren, mich am kollektiven Nichtwissen zu beteiligen. Ich vertraue darauf, dass die Wissenschaft ihrem Namen gerecht wird, wir irgendwann mehr wissen werden, und fühle mich vom wachsenden Besserwissertum vieler meiner Mitmenschen genervt.
Den Takt gibt das Radio vor. Wenn sich die Nachrichten zu oft wiederholt haben, wechsle ich von Ö1 zu FM4. Oder umgekehrt. Falls ich es nicht überhört habe, dann haben sie aufgehört, stündlich die Zahl der Neuinfektionen, Gestorbenen, Genesenen zu verlesen. Ich merke, wie unaufmerksam ich immer zur vollen Stunde werde. Die Nachrichten sind schrecklich monoton geworden. Auch für diejenigen, die sie ansagen müssen. Die Moderatorin im Bildungsradio nahm es mit Humor: „Auch nicht erfreulich, aber wenigstens ein anderes Thema: die Borkenkäferplage.“ Die Tiere sind heuer nicht erst irgendwann im Frühjahr, sondern bereits im Jänner geflogen. Schlecht für die letzten Fichten, denke ich.
Meinen Garten plagt einstweilen die Trockenheit. Ohne Wasser aus dem Brunnen würde gar nichts wachsen, und die drei Tropfen, die es gestern geregnet hat, sind nicht von Belang. Wenn es so weitergeht, drohen die Igel heuer schon im Frühjahr zu verdursten.
Vor ein paar Nächten hatte ich noch Angst, es würde frieren, und stellte Grabkerzen ins Frühbeet, damit die frostempfindlichen Pflänzchen draußen überleben. Die Nachbarn könnten glauben, ich würde an der Entwicklung eines Teufelskults arbeiten. Gedämpftes Flackern durch einen Sarkophag aus Plexiglas, in dem Häuptelsalat und Kohlrüben Wurzeln schlagen.
Vielleicht sind sie deshalb alle so freundlich. Aufs Erste mag es paradox klingen, aber die verordnete Distanzierung und Isolation hat mich meinen Nachbarn nähergebracht. Man unterhält sich über den Zaun hinweg, über die kaum mehr befahrene Straße, von Komposthaufen zu Komposthaufen. Bin ich eher Homer Simpson oder vielleicht doch Ned Flanders? Die Spießigkeit von Suburbia beruhigt jedenfalls, und Piggie, die vier Monate alte Dackeldame des Nachbarn, ist wirklich entzückend.
Ich entwickle unerwartete Routinen, schließe neue Bekanntschaften. Nicht nur vor der Tür, auch draußen im Wald, in den es mich jetzt fast täglich zieht. Wenn ich joggend näherkomme, höre ich immer an derselben Stelle einen Eichelhäher schreien. Es ist eine künstliche Aufgeregtheit, mit der er die anderen Tiere an der etwas abseits des Trampelpfads gelegenen Wildfütterung warnt. Manchmal sehe ich dort noch aufgewirbelten Staub und erkenne, dass etwas vor mir ins Dickicht geflohen ist.
Mit den Kindern, die vierzehn Tage bei mir waren, habe ich am Waldweg zwei Dutzend Ölkäfer gezählt. Dass die Viecher giftig sind, wusste ich. Dass sie dermaßen giftig sind, war mir aber nicht bewusst. So ein Superlativ fasziniert, selbst wenn „das giftigste Insekt der Gegend“ weniger eindrucksvoll klingt als der historische Verweis. Angeblich wurden die Giftmorde der berüchtigten Renaissance-Familie Borgia mit zermahlenen Ölkäfern durchgeführt. Den einen oder anderen von ihnen hatte ich wohl schon im Profil meiner Laufschuhe kleben. Oder die Kinder haben ihn mit ihren Mountainbikes überfahren.
Eine Milliarde Tiere soll in den Buschfeuern in Australien verbrannt sein. Ich frage mich, wie solche Hochrechnungen zustande kommen. Die Feuer wurden jedenfalls gelöscht, wenn auch nicht von Menschenhand, sondern von den – laut Radio – schwersten Regenfällen, seit darüber Aufzeichnungen geführt werden.
In Wien und in Graz und wohl auch andernorts haben die Stadtmuseen aufgerufen, zu sammeln. Kein Crowdfunding, nein, es geht um Objekte und private Dokumente in Schrift, Bild, Audio und Video. Für die Nachgeborenen. „Dieser Apfelbaum wurde am 28.3.2020 inmitten der großen Corona-Krise gepflanzt“, heißt es auf dem Foto in einer Mail-Aussendung, „er gibt uns Hoffnung auf süße Früchte.“ An der Uni Graz soll ein Forschungsprojekt unseren Umgang mit der Krise wissenschaftlich analysieren. Was mich daran erinnert, dass ich einmal über Pestsäulen recherchieren wollte. Und an meinen Vorsatz, spätestens im Herbst die Stämme der Obstbäume mit Kalk einzustreichen. Weiß gestrichen, bleiben die Bäume länger kühl, blühen später und sind so besser vor spätem Frost geschützt.
Was außer diesem Text könnte ich selbst als Museumsobjekt beisteuern? Was wäre mustergültig für diese außergewöhnliche, bislang aber nicht wirklich entbehrungsreiche Zeit? Ein auf Nadeln gespießter Ölkäfer wäre seltsam exzentrisch. Eine niedergebranntes Grablicht pathetisch. Eine Gießkanne beliebig. Eines der Bücher, die ich zuletzt gelesen habe, zu willkürlich. Am aussagekräftigsten wäre vermutlich jenes Buch, das wir zu Hause dieser Tage immer wieder zur Hand nehmen, manchmal sogar mehrmals täglich: der Frühlings-Band aus Katharina Seisers „Jahreszeiten-Kochschule“. Es ist das erste Mal seit Schulbuchzeiten, dass ich mir vorstellen kann, dass eines meiner Bücher irgendwann richtig abgegriffen ist, gezeichnet vom Leben, so, wie man es aus Museen kennt.
18. März 2020
Thomas Weber, Strasshof
Kleist, Moos, Fasane
Das Wasser aus der einen Tonne habe ich in die andere hinübergeschöpft. Gestern schon. Jetzt warte ich auf Regen. Bald werde ich gießen müssen. Meine Gedanken bei der Gartenarbeit drehen sich um das, was der Wind vom Radio herüberträgt, das ich zur Gesellschaft in der Mittagspause mit aus dem Haus genommen habe. Verknüpfen es mit dem, was ich beim Frühstück gelesen habe.
In China verzögert sich heuer der Reisanbau, fällt mir wieder ein. In einigen Provinzen, die von den Behörden vorerst abgeriegelt bleiben, wird kein Getreide ausgesät.
Auch nicht ohne, denke ich, während ich die Paprikapflänzchen und den aufkeimenden Mangold in seinen Schälchen verrücke. Dorthin, wo sie die meiste Sonne abbekommen werden.
Haben sie die Feuer in Australien mittlerweile gelöscht? Brennt Brasilien eigentlich noch? Werde ich am Abend googlen.
Wer hat nicht viel gelesen dieser Tage? Tagesaktuelles. Minutenaktuelles. Livestreams verfolgt. Ausgangssperren, Notbetten, Massenkündigungen. Ausnahmezustand überall. Hätten wir alle überreagiert, wir könnten einfach zu unseren altbekannten Katastrophen zurückkehren.
Wird wohl nicht der Fall gewesen sein. Nur hier im Garten wächst alles wie immer. Solange die Tonne nicht leer bleibt.
Drinnen kocht meine Frau. Morgen bin wieder ich dran. Wir wechseln einander ab. Ich bin ein paar Tage daheim geblieben. Jetzt arbeiten wir beide aus dem Homeoffice. Ich am Küchentisch, sie vom Schreibtisch zwischen den Bücherstapeln aus. Durch die Vorhänge kann sie mich sehen, wenn sie möchte. Ich bringe den Bienen zu trinken. Auf dem bemoosten Stein, den die Kinder im Vorjahr als Souvenir aus Schweden mitgebracht haben, landen sie besonders gerne, um aus dem Blumentopfuntersetzer Wasser zu holen. Die Kinder fehlen. Eigentlich hätten sie hier sein sollen. Irgendein Feiertag am anderen Ende des Landes. Aber nun, da die Schulen gesperrt sind, ist alles anders. Hier in der Nähe von Wien wie dort an der Grenze zur Schweiz. Die Züge sind tabu. Norditalien auch. Tirol ist Seuchenland, der Arlberg gesperrt. In Deutschland gibt’s kein Durchkommen. Aber ohne Internet – ja, eh – wäre alles noch viel schlimmer.
Heute Abend wird gelesen. Was vom Bücherstapel. Und danach ein Hörbuch gehört. Ein Klassiker, für den ich mir sonst nicht Zeit nehme. Michael Kohlhaas, oder vielleicht irgendwas von Goethe. Oder soll ich aus Solidarität Zeitgenössisches runterladen, damit ein paar Cent bei einem Kollegen hängenbleiben?
Vor ein paar Tagen habe ich den morsch gewordenen Flieder umgehackt und schwitzend beschlossen, mir am Abend einfach einen lustigen Film anzusehen. Nicht allzu viel nachdenken wollte ich, einfach nur lachen. „Ok, welches ist der lustigste Film, den ihr je gesehen habt?“, war meine Frage auf Twitter. Bud Spencer und Terence Hill wurden mir da nahegelegt, Louis de Funès und „The Big Lebowski“, „Die Nackte Kanone“ und „Das Leben des Brian“. Filme für mehrere hundert Stunden.
Als es dunkel war, haben wir uns dann trotzdem wieder eine dieser Zombieserien angesehen und nach fast zehn Staffeln „The Walking Dead“ mit der ersten von „Fear the Walking Dead“ begonnen. Vielleicht, weil es sich weniger nach Eskapismus anfühlt.
Als ich vorhin im Auto zum Arzt unterwegs war, um ein Medikament abzuholen, waren die Straßen menschenleer. Auf 23 Kilometern Hin- und Rückfahrt begegneten mir drei Autos. Dafür saß alle paar hundert Meter ein Fasan auf der Fahrbahn, ich sah dutzende Rehe und bremste gleich ein paar Mal für Feldhasen ab.
„Ich wusste gar nicht, dass ihr in Europa richtige Hamster habt!“, hatte mir, merkbar begeistert, eine Freundin aus Chicago geschrieben. Sie arbeitet dort als Lehrerin, verlässt das Haus schon seit Tagen nicht mehr, fürchtet sich vor Plünderungen und ist froh, einen scharfen Schäferhund zu haben.
Jetzt schafft es glatt wieder mal ein deutsches Wort in den englischen Sprachgebrauch, dachte ich, als wir über Trump chatteten. Doch der Kulturexport hatte nichts mit den „Hamsterkäufen“ zu tun. Im amerikanischen Fernsehen haben sie dieser Tage eine Doku über die Wildtiere am Zentralfriedhof gezeigt.
Ich mach mich jetzt auf zum Bücherstapel. Es wird was Zeitgenössisches. Und wenn dann die Kinder da sind, seh ich mir mit ihnen endlich „Fack ju Göhte“ an.