Highlights
23. März 2020
Verena Mermer, derzeit Bowling Green / Ohio
Mein Nachbar klopft an der Haustüre. Gibt mir seine Telefonnummer, ich texte ihm meine. Wenn eine Familie oder Einzelperson krank wird, erledigen die Gesundgebliebenen die Einkäufe, stellen eine Tragtasche oder einen Karton mit den notwendigen Gütern an der Türschwelle ab. Hier in Bowling Green, Ohio, halten sich die meisten Menschen an Hygieneempfehlungen und Ausgangsbeschränkungen. Wohl auch, weil sie wissen, dass das hiesige Gesundheitssystem einer Epidemie nicht gewachsen ist. Six feet away or six feet under, meint ein Freund am Telefon. Wenigstens geht uns der Galgenhumor nicht aus. Seit über einer Woche sind Spezialmasken knapp; auch an Test-Kits mangelt es, daher weiß niemand eine auch nur annährend akkurate Zahl der Infizierten.
Kassiererinnen in den Supermärkten, Postboten, Krankenpfleger und Ärztinnen tun ihren Job. Alle anderen sind angehalten, Distanz zu wahren. Stay home, save lives. Es ist schwer zu ertragen, dass wir fast nichts tun können – dass wir im Gegenteil am meisten beitragen können, indem wir Handlungen unterlassen. Der Unterricht an der Universität findet online statt. Das Verkehrsamt ist geschlossen, wer mit abgelaufenem Führerschein angehalten wird, soll angeblich keinen Strafzettel erhalten. Restaurants mutieren zu Lieferservices. Ohnehin bereits verschuldete Studierende verlieren ihre Nebenjobs und sind angehalten, ihre Zimmer in den Heimen zu räumen. Der Campus wird zur Geisterstadt.
Ich bin dort, um die letzten Scans und Kopien zu machen und höre ein Rascheln, das von einem Menschen kommen muss, der sich im Gang bewegt. Ich schlucke ein paar Tränen hinunter, weil dieses alltägliche Geräusch, weswegen ich in normalen Zeiten vielleicht sogar die Bürotür geschlossen hätte, auf einmal wunderbar und kostbar geworden ist. Mit sechs Fuß Abstand grüße ich Kolleginnen und Kollegen; wir stecken alles an Trost und Zuversicht in die Worte, die wir für diese bis auf Weiteres letzten Begegnungen zur Verfügung haben. Die Fallzahlen steigen. We can minimize the pain, verspricht Bernie Sanders; von Donald Trump kommen Sätze wie Our country is doing unbelievably well, oder Because it comes from China, it’s not racist at all. Die Grenzen der USA sind weitgehend dicht, die Grenzen der Europäischen Union ebenfalls, der Flugverkehr ist eingestellt. Anfang der Woche waren die Flughäfen JFK und Newark überfüllt von Reisenden, die Angst hatten, nicht mehr weg zu können. Eine Kollegin musste nach Deutschland abreisen, um ihre alte Mutter zu pflegen; die Betreuerinnen aus Polen kommen nicht mehr ins Nachbarland. Ich habe mich entschieden, zu stranden. Wieso werden dies- und jenseits des Atlantiks Menschenansammlungen vermieden, wenn sie in den Transiträumen zwischen Europa und Nordamerika regelrecht herbeigeführt werden? Die Ankommenden erwartet Quarantäne. Es gibt Schlimmeres. Ich muss an Lesbos denken und will mir die Auswirkungen von COVID-19 in den überfüllten Lagern nicht vorstellen.