Highlights
25. April 2020
Kaśka Bryla, Leipzig
„Logisch“, antworte ich, als mich Olivia fragt, ob ich sie morgen in die Corona-Ambulanz fahre. „Und die Überweisung? Holst du die auf dem Weg zu mir ab?“ – „Sowieso“, bestätige ich. Wir haben denselben Hausarzt und ich möchte mir ohnehin einen Termin für ein großes Blutbild ausmachen. Ein bisschen neugierig auf diese Corona-Ambulanz bin ich auch. Niemand weiß, wo sie ist. Irgendwo am Stadtrand, wird gemunkelt.
Fast leer ist das Wartezimmer des Hausarztes. Die, die da sind, sehen recht fit aus. Um das Pult der Ordinationshilfe ist eine Wand aus Plexiglas gespannt.
„Ich bin wegen der Überweisung für Olivia hier“, verkünde ich. Die Ordinationshilfe sieht mich entgeistert an. „Da kommen Sie rein?“ Meine Einweghandschuhe und der Schal beeindrucken sie kein bisschen.
„Äh?“, mache ich.
„Sie hätten anrufen können! Dann hätte ich Ihnen die Überweisung hinaus gebracht.“ Ihre Strenge schüchtert mich ein. Warum sind Ordinationshilfen immer Frauen? Die wenigen Wartenden sehen mich auch anklagend an. Zumindest glaube ich das.
„Die ist aber doch nicht für mich“, rechtfertige ich mich ungläubig. Denn ich stehe im Eingangsbereich in Vollmontur. Zwischen uns das Plexiglas.
„Aber für Ihre Freundin“, argumentiert die Ordinationshilfe. Unsicher, ob sie meint, Olivia und ich seien ein Paar, überlege ich hektisch, welchen Teil ich klarstellen soll.
„Die habe ich zuletzt vor vier Wochen gesehen.“ Jetzt schaut sie nicht mehr ganz so streng. Mich in Sicherheit wiegend, füge ich hinzu: „Und einen Termin für ein Blutbild will ich machen.“ Corona ist das neue AIDS, denke ich und unterschlage den Lungenfunktionstest, den ich ebenfalls machen wollte. Auch den Antikörper-Test erwähne ich besser nicht. Oder, dass ich, als ich glaubte, den Virus zu haben, nicht hergekommen war. Theoretisch könnte ja jede und jeder in diesem Wartezimmer Covid-19 haben.
„Das ist keine gute Zeit!“, antwortet sie, wieder ganz die alte. Ich sehe mich noch einmal im Wartezimmer um, als hätte ich mich vorher verzählt. Fünf Menschen. „Nicht?“, frage ich.
„Sie bringen Ihre Freundin ja jetzt in die Corona-Ambulanz.“ Ich überlege, wer Olivia denn sonst hinbringen soll. Eltern sind raus (zu alt). Mitbewohnerin hat kein Auto. Für Öffis ist sie zu schwach. Und die Taxifahrerin möchte ich sehen, die sie mit „zur Corona-Ambulanz, bitte“ einsteigen lässt. „Da brauchen Sie gar nicht zurückkommen“, sagt die Ordinationshilfe.
„Äh?“, mache ich wieder. Und weil ich noch immer so da stehe und sie ansehe, sagt sie schließlich: „Außer der Test ist negativ. Dann schauen wir wegen dem Blutbild.“
Die Corona-Ambulanz ist ein Container am Ende der Welt. Erst muss man durch eine Schranke. In einem Wachhäuschen sitzt ein Mann. Im Fenster hängt ein Zettel: Nur mit gültiger Überweisung. Olivia fächelt mit der Überweisung. Aber er kommt eh nicht raus, um die Gültigkeit zu überprüfen. Winkt uns durch. Überall sind Schilder aufgestellt. CORONA-Ambulanz. Als würde man der Apokalypse entgegensteuern. Auf den letzten Metern fahren wir an zwei Menschen vorbei, die den Weg zu Fuß zurücklegen. Ein ganz schöner Spaziergang für jemanden, die oder der krank ist. Dann endlich der Container. Davor ein Parcours aus Eisengittern und Leere. Ich überlege, wo ich parken soll, und bleibe einfach mitten auf der Straße stehen. Während ich auf Olivia warte, tuckert ein volles Polizeiauto vorbei. Sie sehen mich an. Es gibt ja sonst nichts. Aber wer wird sich hier schon über Halten und Parken streiten?
„Und, und?“, frage ich, sobald sie wieder im Auto sitzt. „Drei Menschen in Ganz-Körper-Schutz haben meine Daten aufgenommen. Den Abstrich. Bis Montag bekomme ich Bescheid, sollte er positiv sein. Sonst nicht.“
„Aha“, sage ich und starte das Auto.
17. April 2020
Kaśka Bryla, Leipzig
„Hast du dein Ei bereit?“, fragt meine Mutter am Telefon. Ich schaue auf meinen Teller und sehe, dass ich das Ei im Laufe des Gespräches schon gegessen habe. In Polen teilt man traditioneller Weise am Ostersonntag zum Frühstück ein (geweihtes) Ei miteinander. „Bereit“, antworte ich und stecke mir eine Olive in den Mund.
„Dreihundert Meter“, erzählt meine Schwester ebenfalls aus Warschau (anderer Stadtteil als meine Mutter) am Telefon, „gerade weit genug, um zum nächsten Supermarkt und zur nächsten Apotheke zu kommen.“ Das Kleinkind meines Mitbewohners läuft an mir vorbei. „Ei!, Ei!“, ruft es und hält das hartgekochte bunte Ei hoch. Ich winke.
Langsam sei es mühsam keine Freunde zu treffen. Selbst mit ihrem Mann müsse sie auf der Straße zwei Meter Abstand halten, erzählt meine Schwester weiter. Das finde sie doch übertrieben.
Während des Gesprächs scrolle ich die Twitter-Meldungen von sea-eye durch. Die 150 Personen sind noch immer an Bord der Alan Kurdi. Das ist jetzt schon eine Woche her.
„Anstrengend“, pflichte ich meiner Schwester bei. „Aber du wohnst ja mit so vielen Menschen zusammen“, sagt sie. Etwas, das mir in normalen Zeiten selten als Vorteil ausgelegt wird.
In Leipzig bekomme ich die Ausgangsbeschränkung tatsächlich kaum zu spüren. Einerseits liegt das sicher an dem Stadtteil, in dem ich lebe. Connewitz. Der direkt angrenzende Wald ist knallvoll wie im Hochsommer. Zwei Meter Abstand hält niemand ein. Vereinzelt läuft jemand mit einem Mundschutz herum. Das ist aber wirklich die Ausnahme. Auch beim Bäcker sieht mich die alte Frau, die einen halben Meter hinter mir steht und mir in den Rücken hustet, verwundert an, als ich mich umdrehe und sie bemerkt, dass ich den Schal über die Nase gezogen habe. Andererseits würde ich mit meinen braunen Stirnfransen und der weißen Haut auch außerhalb des erlaubten 15 Kilometer Radius wahrscheinlich gar nicht erst kontrolliert werden.
„Hier erwarten wir den Peak Ende April“, sagt meine Schwester. Ich scrolle durch meine Mails. Eine Kollegin aus Wien schreibt mir, dass sie sich als jemand aus der Risikogruppe manchmal furchtbar schlecht fühle, weil wegen ihr „die Jungen“ ihr Leben so sehr einschränken müssen.
Dass es so weit kommt, dass sich die sogenannte „Risikogruppe“ schlecht fühlt, geht mir total auf die Nerven. Genauso wie ich die Augen verdrehe, wenn meine Mutter seit ihrem 65. Lebensjahr darauf besteht, keine lebensverlängernden Maßnahmen durchführen lassen zu wollen. „Und ich soll das dann entscheiden?“, frage ich immer. Natürlich, sagt sie. Weil sie füllt selbstverständlich keine Patient*innenverfügung aus. Allerdings habe ich auch noch nie versucht, ihr dabei zu helfen. So selbstlos bin ich schlichtweg nicht. Ich möchte ja, dass sie ewig lebt. Und schließlich gehört sie zu jenen, die am längsten in dieses Gesundheitssystem einbezahlt haben, also warum soll bei ihr im hohen Alter nicht um jedes weitere Jahr, auch wenn es nur eines ist, gekämpft werden.
Außerdem wird mir bei der dystopischen Vorstellung von einer Gesellschaft mit lauter jungen, gesunden Menschen einfach übel. Wer will denn das?
„Nächstes Jahr feiern wir wieder zusammen“, sage ich zu meiner Schwester und zu meiner Mutter „Wir hören uns später.“ Inzwischen telefonieren wir zwei Mal am Tag. So viele Gespräche, Telefonate Skype-, Zoom- und Jitsi- Dates wie seit dieser Krise hatte ich gefühlt das gesamte Jahr 2019 nicht. Das Wetter macht es zu einem der schönsten Ostersonntage, an die ich mich erinnere. Über 20 Grad. Überall Knospen und kleine grüne Blätter. Ich schmiere mir sogar Sonnencreme ins Gesicht.
11. April 2020
Kaśka Bryla, Leipzig
Ich höre abwechselnd die Nachrichten aus Deutschland, Polen und Österreich. Oftmals nach dem Zufallsprinzip zappe ich durch verschiedene Radiosender und lande Sonntag Morgen auf einem polnischen Radiosender, als gerade ein Priester interviewt wird. Wahrscheinlich wäre mir das auf fünf anderen polnischen Sendern auch passiert. Der Priester ermutigt die Menschen in diesen Zeiten, innere Einkehr zu halten, sich zu sammeln und sich neu zu überdenken (also die Krise als Chance wahrnehmen), und während ich ihm zuhöre, frage ich mich, ob er selbst dieses Fenster auch nutzt. Ob vielleicht die katholische Kirche ihre Hetze gegen Lesben, Schwule, Trans- und Intersexpersonen Personen sowie Feministinnen während der Pandemie auch überdenkt und geläutert aus dieser Krise hervorgeht. Danach berichtet der Priester von einer Spendenkampagne für ein Krankenhaus. Es soll genug Geld zusammenkommen, um ein Beatmungsgerät zu kaufen. Eines! Mir wird ganz anders und ich wische den Sender vom Bildschirm meines Smartphones.
In Deutschland warten die noch leeren Intensivbetten auf den Ansturm. Aber es wird mit großer Sorge über die diesjährige Spargelernte gesprochen. Wo doch jetzt die (unterbezahlten) polnischen Saisonarbeiter*innen abgezogen sind...
Wenn ich keine Nachrichten höre, arbeite ich, im Moment an der Recherche zu einem Essay für die kommende Ausgabe der Literaturzeitschrift PS-Politisch Schreiben. Er reflektiert die Entwicklung von Kooperation innerhalb des Literaturbetriebs anhand des altbewährten Gefangenendilemmas.
Beim Gefangenendilemma handelt es sich um ein Zwei-Personen-Nicht-Nullsummenspiel. Es bestehen beiderseits sowohl gemeinsame als auch konfligierende Interessen. Das Ergebnis der Entscheidung der einen Partei ist von der Entscheidung der anderen Partei abhängig. Das Verhalten der Akteur*innen beeinflusst sich wechselseitig. Die Entscheidungen werden simultan, aber unabhängig voneinander getroffen, und die eine kennt die Entscheidung der anderen Akteur*in nicht. Jede Akteur*in versucht, mit der Strategie, die ihrem rationalen Verhalten entspricht, unter den gegebenen Beschränkungen ihren eigenen Nutzen zu maximieren. Im klassischen Gefangendilemma ist es für beide Akteur*innen die dominante Strategie zu defektieren, also die Zusammenarbeit miteinander abzulehnen. Das bedeutet, dass Defektion für jede einzelne vorteilhafter ist als Kooperation, egal was die andere tut. Wenn allerdings wirklich beide defektieren, erzielen sie damit den minimalsten Gewinn.
Für die klassische Illustration des Gefangenendilemmas wird der Fall zweier Straftäter, die eines gemeinsamen Verbrechens beschuldigt werden, herangezogen. Sie werden getrennt voneinander verhört und wissen nicht, was der jeweils andere aussagt. Gestehen beide, erhalten beide eine hohe Strafe, aber nicht die Höchststrafe. Gesteht jedoch nur einer, geht dieser als Kronzeuge straffrei aus, während der andere als überführter, aber nicht geständiger Täter die Höchststrafe bekommt. Wenn keiner gesteht, sie also miteinander kooperieren, oder anders ausgedrückt, sich aufeinander verlassen, machen sie in der Summe den größten Gewinn, also bekommen zusammen die niedrigste Anzahl von Jahren im Gefängnis. Dieses Dilemma versuche ich, auf „das Prosa Debüt“ im Literaturbetrieb anzuwenden.
Dazwischen werde ich abgelenkt. Ich höre, wie jemand aus meinem Kollektiv meint, er finde es krass, wie Polen die Grenzen dicht gemacht hat. Man könne nicht einmal mehr durchreisen.
Ich entgegne, dass es bei dem Gesundheitssystem, das Polen habe, die logische Konsequenz sei. Gäbe es ein überregionales europäisches Gesundheitssystem, ließen sich die Grenzziehungen während einer Pandemie anders verhandeln. Noch etwas unbeholfen rücke ich meinen Mundschutz zurecht.
Mein Smartphone vibriert. Eine Freundin, die gerade noch auf der Sea Watch 3 im Hafen liegt, schreibt aufgeregt: Die Alan Kurdi hat heute um die 150 Menschen aus Seenot gerettet!
Wie cool!, antworte ich und kann nicht anders als gleichzeitig an das Camp in Moria auf Lesbos zu denken, in dem seit 2015 Geflüchtete darauf warten, auf die Mitgliedstaaten der EU verteilt zu werden, und mich gleichzeitig zu fragen, was in Folge aus den 150 geretteten Menschen der Alan Kurdi werden wird. Wo sie leben werden. Im jetzigen Stadium der europäischen Kooperation oder Defektion.
2. April 2020
Kaśka Bryla, Leipzig
Kurz vor der Leipziger Buchmesse fangen für unsere Redaktion – die der Literaturzeitschrift PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb/Politisch Schreiben – die Auswahltage an, bei denen wir uns darüber einig werden müssen, welche Prosatexte in der nächsten Ausgabe erscheinen. Diesmal hatten wir 85 Einsendungen, ganz schön viel zu lesen, ganz schön viel zu besprechen. Hierfür kommt die sonst über Berlin, Leipzig und Wien verteilte Redaktion in Leipzig zusammen. So auch am 11. März. Schon da beherrscht der Corona-Virus die Gespräche zwischen den Text- und Autorin_innenbesprechungen. Die Leipziger Buchmesse wurde sehr spät, aber dann doch abgesagt. Wir denken noch: Großveranstaltung und so, scherzen ein wenig darüber. Es betrifft uns ja nicht direkt. Die Zahlen aus Italien sind zwar beunruhigend aber noch nicht alarmierend. Die EU-Außengrenzen, die Lager auf Lesbos beschäftigen uns mehr.
Trotzdem telefoniere ich bereits täglich mit meiner Mutter, die sich in Warschau aufhält und mahne sie eindringlichst, bitte, bitte, um meinetwillen, das Haus nicht mehr zu verlassen. Meine Mutter ist 74 Jahre alt, besitzt nur noch 40 % ihrer Lungenkapazität, von den Rheuma-Medikamenten, die sie nimmt, ganz zu schweigen. Aber so, wie wir es noch nicht sehr ernst nehmen, versucht auch meine Mutter meine Bedenken und Mahnungen zu zerstreuen, bis ich schließlich Rotz- und Wasser plärre und ihr so das Versprechen abringe, zuhause zu bleiben.
Am 13. März werde ich einer befreundeten Autorin schreiben: Zum Glück ist Polen ein paranoides Land und hat schon bei nur 16 Fällen alles abgeriegelt.
Und sie wird zurückschreiben: Das hätten wir uns auch nie gedacht, dass du jemals folgenden Satz schreiben würdest: Zum Glück ist Polen ein paranoides Land!!!
Am 15. März werden die Grenzen von Deutschland nach Polen zugezogen. Nur noch unter bestimmten Voraussetzungen wird man danach einreisen dürfen. Wenn man zum Beispiel einen polnischen Pass oder Perso hat. Was ich theoretisch tue, nur leider habe ich den Perso nicht bei mir, denn den habe ich bei meinem letzten Aufenthalt in Polen erneuern lassen und wollte ihn zu Ostern abholen. Ich müsste also jetzt sofort fahren, das wäre am unkompliziertesten. Dann müsste ich allerdings für vierzehn Tage in Quarantäne, nämlich bei meiner Mutter und sollte ich tatsächlich den Virus haben... Das wäre denkbar ungünstig und noch sind Tests große Mangelware. Ich entscheide nicht zu fahren.
Am Samstag, den 14. März, reisen unsere beiden Redaktionsmitglieder Eva und Josh verfrüht zurück nach Wien. Aus Angst, womöglich in der kommenden Woche nicht mehr so leicht nach Österreich einreisen zu dürfen. Ich überlege mitzukommen. Für Österreich habe ich immerhin einen gültigen Pass. Dort wohne ich alleine und könnte alleine in Quarantäne. Aber zwischen Österreich und Polen liegt Tschechien und wer weiß, ob Durchreisen noch erlaubt sein wird. Es gibt keine Zeit, alle Eventualitäten gut abzuwägen, um dann die richtige Entscheidung zu treffen.
Ich bleibe in Leipzig, in dem Kollektiv, in dem ich wohne. Letztlich. Wenn ich krank werde, ist es auch egal, ob hier oder dort. Um zu helfen, ist es auch egal, wo ich gerade bin. Und sollte meine Mutter krank werden, dann komme ich zumindest wahrscheinlicher nach Polen. Hoffentlich.