Das bewegte Leben des Malers O.A.W. Schulze alias Wols im Tagebuch des Dichters Hans Eichhorn
Es ist meist Winter in diesem Buch, denn nur da hat der Dichter, der auch Fischer ist, Zeit und Muße, sich Tag für Tag an seinen Schreibtisch zu setzen, im Haus am See oder in der oberösterreichischen Kleinstadtwohnung. Ein Blick aus dem Fenster auf die kahlen Bäume, und schon stellt sich die Welt von Wols ein, schon erwachen im Kopf die feinen Tuschfederzeichnungen des Künstlers mit bürgerlichem Namen Alfred Otto Wolfgang Schulze. Geboren 1913 in Berlin, Kindheit in Dresden, zunächst als Fotograf tätig, erste Einzelausstellung 1937 in Paris, dort Kontakte zur künstlerischen Avantgarde, nach Kriegsausbruch Internierung in verschiedenen französischen Lagern, wo er intensiv zu zeichnen und zu aquarellieren beginnt; Circus Wols, das ehrgeizige Projekt eines umfassenden Bildungserlebnisses, entsteht; Tod 1951, vermutlich Fleischvergiftung.
Die Eckdaten eines Lebens, das Katalogwissen, wie fügen sie sich zu einem Menschenbild?
»Man muß seine Texte, seine Zitate und seine Zeichnungen als Ganzes im eigenen Kopf bewegen. Das ergibt dann Wols.« (H.-P. Roché)
Kathrin Röggla schreibt differenziert und geradezu artistisch in der Wahl der literarischen Mittel, und der Leser, der sich womöglich als Mitläufer ertappt fühlt, lässt sich gern von der Souveränität der jungen Autorin anstecken. Das ist intensive Unterhaltung auf höchstem Niveau.
Hauptsache man ist dabei, ganz dicht dran. Keinen Moment verpassen. Immer in Bewegung bleiben, auch so kommt man schließlich voran - und nicht vergessen: sich immer klasse dabei finden, kann ziemlich hilfreich sein. Kann aber auch knallen, doch wo gibt es sonst noch Reibung, Widerspruch; fließende Übergänge sind ja allerorts gefragt, und so manche glauben auch daran.
Von dem, was man so leichtfertig unter "Gegenwart" zusammenfasst, handeln diese Texte. Orte werden mit darin abgelagerten Gesprächsartikeln, Gesten und Riten verschränkt, so entstehen mental maps, Skizzen einer sich stark verändernden Stadt und Gesellschaft.
Er galt in der Antike als Liebling der Götter. Seine Schönheit, seine Merkwürdigkeit seien kaum zu übertreffen, hieß es, und seine Stimme beschreibt Oppianos mit den Worten: "Kein Mensch kann einen Vogel nennen, der lieblicher sänge als ein Eisvogel."
In Oberösterreich, Brandstetters Heimat, nennt man ihn nicht ohne Ironie Eisenkeil. Lange glaubte man ihn verschollen, wenn nicht gar ausgestorben, doch 1998, in dem Jahr, als Alois Brandstetter sechzig Jahre wurde und zugleich Ehrenbürger seiner Heimatgemeinde Pichl, tauchte der Vogel seiner Kindheit dort plötzlich wieder auf. Ein willkommener Anlass, um ihm nach allen Regeln der poetischen Zoologie nachzuspüren, angefangen vom mythischen Altertum bis zu seiner überraschenden Epiphanie. Der Ruf der Treue und Zärtlichkeit, die dem Eisvogel seit Aristoteles und Ovid nachgesagt werden, sind Ausgangspunkt für sehr persönliche Bekenntnisse Brandstetters: "Das Besondere an meinem unabenteuerlichen Leben besteht wohl darin, dass ich mit dem nicht Besondern besonders achstsam umgegangen bin, mit dem Unspektakulären bei meiner Schriftstellerei mein Auslangen gefunden habe und aus dem nicht Prächtigen oder Glänzenden merkwürdigerweise Funken geschlagen habe."
"Erregung und Ekel. Dazwischen gibt es nichts."
Ein Buch, das verstören und begeistern wird, keines, das den Leser unbeteiligt lässt.
"Erregung und Ekel. Dazwischen gibt es nichts."
Die Erfahrung, von der hier gesprochen wird, findet ihren Niederschlag vor allem auf schäbigen Herrentoiletten. Da aber für den Ich-Erzähler nur zum Opfer wird, wer sich entscheidet, vor seinem Vergewaltiger zu wimmern, besteht er darauf, sich gut zu fühlen. Die Totalverdrängung der erfahrenen psychischen und sexuellen Gewalt führt über das langsame Absterben seines Körpers bis hin zur Persönlichkeitsspaltung. Die Wurzel der Gewalt bleibt im Hintergrund. Der Akzent liegt auf den vom Ich-Erzähler als Kind entwickelten Überlebensstrategien, die nach und nach zur Selbstauslöschung führen.
Thomas Jonigk, der sich bislang als Theaterautor einen Namen gemacht hat, legt mit "Jupiter" ein provozierendes Romandebüt vor. Er verzichtet auf Schuldzuweisungen, Mitgefühl und lässt - politisch unkorrekt - die Täter- bzw. Opferrolle ständig kippen.
Die souveräne Handhabung literarischer Techniken, die emotionale Bandbreite, die entfaltet wird, und der streckenweise geradezu skandalös heitere Ton lassen die vielen Nuancen der Gewalt nur noch deutlicher hervortreten.
Franz Groß hat vom Prominentenchauffeur zum Rotkreuzfahrer "konvertiert", wie sich sein Bruder, ein pensionierter Griechischlehrer, der Ich-Erzähler dieses Romans, ausdrückt. Bei Familientreffen, sogenannten Symposien, redet der Fahrer in Fahrt: Er läßt seine Verwandten und auch den Leser ein wenig hinter die Kulissen blicken, geradewegs auf die erstaunlichsten Eitelkeiten selbsternannter Größen. Sympathisches reiht sich da an Entlarvendes, Launiges an nachdenklich Stimmendes. Im Hintergrund steht dabei immer das Aussteigen oder Umsteigen, die erhoffte bisweilen auch erreichte Veränderung in Lebensläufen und Lebenswegen. Und was wäre für einen in den unterschiedlichsten Wissensgebieten Beschlagenen naheliegender, als - ausgehend vom konkreten Fall - souverän Analogien ins Spiel zu bringen - bis hin zur Sage von Herkules am Scheidewege. Er betreibt Motivforschung nach allen Regeln der rhetorischen Kunst, und dabei wird wieder einmal deutlich, dass das scheinbar Neue nicht ganz so neu und das Alte nicht gänzlich veraltet oder "überholt" gibt.
Richard Obermayrs Debüt ist ein kühner, grandioser Wurf. Seine suggestive Kraft bezieht es gleichermaßen aus Idee und Ton, die es leiten, wie aus den Brennpunkten der Genauigkeit und der Überfülle poetischer Bilder. Dieser Roman ist ein lauter wie lächerlicher, ehrlicher wie leiser Protest, das Verschwinden nicht hinnehmen zu wollen.
Ein leerstehendes, halb verfallenes Hotel an der Küste der Normandie ist der Ort, an den sich der Sohn geflüchtet hat, um noch einmal das Leben zu erschaffen. Er bevölkert die Zimmer mit Personen aus den Erinnerungen und schafft dafür anhand von Photographien, Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Plänen eine Kulisse. Die Ruine, der Geruch, die Gebrauchspuren der totemisierten Dinge sind jener Funke, an dem die eigene Geschichte sich entzündet. Lücken sind ihm Anlass, sie zu füllen, und er ist über alle Maßen dazu bereit. Was in diesem Schreiben mitschwingt, ist das weltliche Gegenstück zu dem aus der Religion vertrauten Bild vom Buch der Sünden, in dem alle Taten, die guten wie die schlechten, festgehalten sind.
Viele Bilder fallen hier in einige wenige Felder: Schule, Bühne, Fest. Einen Schüler stelle man sich vor, der in seine Hefte schreibt, einen Schauspieler, der vor den Vorhang tritt, um seine große Rede zu halten.
Kathrin Röggla verschiebt in ihrem ersten Roman gekonnt Erzählstränge ineinander, überdreht Figuren, bis sie comichafte Züge annehmen, und kommentiert, lustvoll und scharf, Gesellschafts- und Gemütslagen in einem quirligen Fluß souveräner Bildabfolgen. Selten wurde das Lebensgefühl einer Generation so treffsicher auf den Punkt gebracht.
\\\"doch sind wir nicht die erbsengeneration, die erbsengeneration ohne zweifel, so sagen sie doch alle immer, die erbsengeneration und nichts anderes, ansonsten wird ja dichtgemacht rundum, man kann das sehen, man kann das hören, nur die eltern sind steinreich und wissen noch am rädchen zu drehen, während den jungen nichts übrigbleibt, als des weges zu kollern.\\\"
Abrauschen - das bedeutet ein Fluchtmoment. Doch ist wirklich noch ein Entkommen möglich aus Berlin-Neukölln, erwischt einen die Vergangenheit immer kalt im Rücken, oder wie entkommt man ihr in einer Welt, die nicht nur kopfsteht, sondern auch rückwärts geht? Mit der Wiederholung der Gegenwart? Und wie zum Teufel ist aus einer Wohnung Geld rauszuschlagen?
Auf einer in Holz gefaßten Schiefertafel hat Alois Brandstetter schreiben gelernt. Schönschreiben.
Die Liebe zur Schrift ist ihm geblieben. Schon als Student fühlte er sich zu wertvollen Pergamenten hingezogen - und zu denjenigen, die sie verfaßten oder sich damit befaßten. Wer, wenn nicht sie, verdiente den Namen "Philologe", wer sonst darf als wahrer "Liebhaber des Buchstabens", als "Vertrauter des Textes" gelten?
Mit Alkuin von York als Wegbegleiter unternimmt Brandstetter einen vergnüglichen, lehrreichen Streifzug durch die Welt der klösterlichen Schreibwerkstätten, Drucktechniken bis hin zur Graphologie, die auch für polizeiliche Ermittlungen eingesetzt wird. Vor diesem Hintergrund nimmt sich so manche neuere Entwicklung, ob Rechtschreibreform oder Computerfetischismus, ein wenig seltsam und auch beklagenswert aus - das Manuskript im klassischen Sinn ist ja so gut wie verschwunden! Und so wird dem Leser augenzwinkernd, aber nachdrücklich klargemacht, das mit jedem Fortschritt immer auch Verlust einhergeht.